Familie, Partnerschaft, Kinder

Angehörige von Menschen mit einer Essstörung sind häufig direkt oder indirekt von der Essstörung mitbetroffen. Sie sind oft die ersten, die merken, dass etwas nicht stimmt (siehe Das Problem erkennen). Häufig versuchen sie, auf verschiedene Art und Weise zu helfen, merken aber oft, dass sie darin hilflos sind. Für viele Eltern, Geschwister oder Partner von Menschen mit Essstörungen ist es sehr belastend, die Essstörung mitzuerleben und zu sehen, welche manchmal bedrohlichen Folgen sie für die Betroffenen haben.

Auf dieser Website finden Sie Infos & Rat für Angehörige: https://www.bzga-essstoerungen.de.

Wir haben in diesem Projekt keine Angehörigen befragt, aber unsere Interviewpartnerinnen haben uns berichtet, welche Erfahrungen sie mit ihren Angehörigen gemacht haben und wie sie diese wahrgenommen haben.

 

Herkunftsfamilie

Da bei den meisten unserer Interviewpartnerinnen die Essstörung in der Jugend begann und sie häufig noch zuhause lebten, spielte die Herkunftsfamilie in der Anfangszeit der Essstörung eine zentrale Rolle (siehe Beginn der Essstörung). Die Erzählerinnen schildern sehr unterschiedliche Erfahrungen sowohl von großer Unterstützung als auch von dem Gefühl, allein gelassen worden zu sein. Häufig werden Konflikte geschildert, die sehr komplex und individuell sind und bei denen sich die Essstörung und familiäre Themen mischen.

Viele der Erzählerinnen berichten von häufigen Streits in der Familie, besonders mit den Eltern. Dabei stand oft das Thema Essen im Mittelpunkt. Manche erlebten unterschiedlichste Versuche ihrer Eltern, die Kontrolle über Essen oder Sport zu übernehmen. So beschreibt eine Interviewpartnerin, dass ihre Mutter ihr später erzählte, sie habe selbst in der Zeit Unmengen gegessen, um sie zum Essen zu animieren. Eine Erzählerin schildert, wie sie mit ihrem Vater immer wieder neue Pläne machte und Absprachen traf, um gegen die Essstörung anzukommen (z.B. Küche abschließen u.ä.). Die Essstörung setzte sich aber immer wieder durch und brachte alle an den Rand ihrer Kräfte.
Für einige unserer Interviewpartnerinnen war es hilfreich, Abstand zu ihrer Familie zu bekommen. Sie zogen zuhause aus und dadurch entspannte sich die Lage. Andere erzählen, dass sie zuhause alles überspielten und möglichst so aßen, dass der Eindruck entstand, alles sei in Ordnung (siehe Verheimlichen und Tricksen).

Miriam Baumanns Mutter machte sich große Sorgen um ihr Kind.

Die Reaktionen der Familie auf das Essen oder Nicht-Essen werden oft als Anlass für Konflikte geschildert. Aus den Erzählungen unserer Interviewpartnerinnen wird deutlich, dass die Frage, ob und wie sie auf das Essen angesprochen werden möchten, nicht einfach zu beantworten ist (siehe auch Soziales Leben): Einerseits beschreiben viele Erzählerinnen, sie wünschen sich, dass ihr Problem wahrgenommen wird und sie darin unterstützt werden, der Essstörung entgegenzuwirken, da sie sich selbst überfordert fühlen. Andererseits schildern sie, wie unangenehm es für sie ist, zum Essen gedrängt zu werden und wie sehr sie sich dadurch angegriffen und in Frage gestellt fühlen.

Claudia Siebert rät, dass Angehörige sich selbst und dem kranken Menschen verzeihen.

Von der Essstörung sind in den Familien alle betroffen, häufig auch die Geschwister. Einige der Interviewpartnerinnen erzählen, dass es für sie in der Familie schwierig war, dass sie jedoch ein Familienmitglied hatten, mit dem es anders war. Das war in manchen Fällen eine Schwester oder beispielsweise die Oma. So erzählt eine Erzählerin, wie ihre Oma ihr immer wieder Essen vorbeibrachte, das sie dann auch gut essen konnte.

Einige unserer Interviewpartnerinnen erzählen, dass ihre Geschwister in dieser Zeit sehr große Angst um sie hatten. Eine Erzählerin berichtet, dass ihre Geschwister ihre Eltern auf die Essstörung aufmerksam machten. Andere berichten, dass ihre Geschwister sich zurückgesetzt fühlten, da die Essstörung so viel Aufmerksamkeit von den Eltern forderte. Diese verschiedenen Belastungen hatten manchmal Auswirkungen auf die weitere Beziehung zu dem Geschwisterteil: Einige Erzählerinnen berichten, dass sich ihre Geschwister von ihnen distanzierten. Bei anderen wurden die Beziehungen eher enger oder nach Behandlungsbeginn wieder besser.

Einige Interviewpartnerinnen, denen es heute bessergeht, berichten, dass im Beisammensein mit ihren Eltern immer das Thema im Raum steht, ob Bemerkungen oder ein bestimmtes Verhalten mit der Essstörung zusammenhängt.

Im Nachhinein berichten einige Erzählerinnen, dass sie sehr dankbar sind für die Bemühungen und die Liebe ihrer Eltern. Sie beschreiben, dass sie sich trotz allen Streits bedingungslos auf die Unterstützung ihrer Eltern verlassen konnten. Vielen wurde erst im Nachhinein bewusst, wie sehr sich ihre Eltern bemüht haben und wie stark sie belastet waren.

Hannah Becker erzählt, dass ihr erst im Nachhinein klar wurde, wie sehr die Essstörung ihre Mutter belastete. Sie erzählt, wie sie in der Klinik selbst die Erfahrung machte, sich um Mitpatienten zu bemühen und ihre eigene Hilflosigkeit spürte, wenn der andere sich nicht helfen lassen wollte: „Ja. Und das hat mir natürlich im Nachhinein auch extrem leid- und wehgetan, dass ich so viele Leute schon, glaube ich, extrem hilflos gemacht habe und extrem verletzt habe. Was ja eigentlich nie meine Absicht war. Aber in dem Moment bin ich auch so egoistisch. Da war ich halt in meinem Film. Und der war Realität und alles andere war irgendwie unwichtig dagegen.“

Bei manchen Erzählerinnen ermöglichte erst ein Abstand zur Familie, die schwierigen Beziehungen zu verbessern, da nun bei gelegentlichen Treffen das Essen nicht immer im Mittelpunkt steht. Eine Erzählerin berichtet, dass sie gute Erfahrungen mit Familientherapie gemacht hat: Ihr Therapeut führte mehrere Sitzungen mit jeweils einem Elternteil und anschließend mit allen durch. Dadurch verbesserten sich die Beziehungen sehr.

 

Partnerschaft

Mit dem Thema Partnerschaft haben unsere Interviewpartnerinnen sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht: Einige berichten, dass die Essstörung sie daran hinderte, eine Partnerschaft einzugehen. Sie erzählen, dass sie während ihrer Jugendzeit, in der Freundinnen erste Erfahrungen mit Verliebt sein, Partnerschaft und Sexualität machten, so mit der Essstörung beschäftigt waren, dass sie keine Zeit und Energie mehr für diese Themen hatten (siehe auch Soziales Leben). Andere berichten, dass sie nach einem Klinikaufenthalt oder während einer Behandlung sehr mit sich beschäftigt waren und wenig Raum für die Beziehung blieb.

Die Erzählerinnen, die eine Partnerschaft hatten oder haben, berichten von Belastungen durch die Essstörung, aber auch von der Unterstützung durch den Partner. Ein wichtiges Thema in diesem Zusammenhang ist die Nähe im Alltag, die durch die Partnerschaft entsteht. So berichten einige Erzählerinnen, dass es schwierig für sie war, die Essstörung vor ihrem Partner zu verheimlichen. Das geteilte Leben bedeutete für sie Stress, da sie nicht unbemerkt ihren Ritualen rund um das Essen und Nicht-Essen nachgehen konnten (siehe Verheimlichen und Tricksen). Das führte bei einer Erzählerin dazu, dass sie sich von ihrem Partner trennte. Andere Erzählerinnen schildern, dass ihre Essstörung auch für ihren Partner eine große Belastung darstellt: Im Alltag erlebt er die Essstörung mit und nimmt wahr, wenn es seiner Partnerin schlecht geht, fühlt sich aber hilflos in seinen Möglichkeiten, etwas zu ändern.

Sophia Gesingers Beziehung zerbrach auch deshalb, weil sie die Essstörung geheim halten wollte.

Einige unserer Interviewpartnerinnen erzählen, wie sie in ihrer Partnerschaft Unterstützung fanden: In alltagspraktischen Dingen, wie gemeinsamen Kochen und Essen, aber auch im Verständnis für besondere Schwierigkeiten. Eine Erzählerin berichtet, dass alleine die stabilisierten Lebensumstände durch das Zusammenziehen mit ihrem Mann für sie sehr hilfreich waren. Eine andere Interviewpartnerin berichtet, dass ihr Partner sie sehr darin unterstützte, sich professionelle Hilfe zu suchen, und sie auf diesem Weg begleitete.

Ein wichtiges Thema ist auch hier die Frage, wie das Essen angesprochen werden kann. So erzählen einige, dass sie froh sind, von ihrem Partner nicht zum Essen gedrängt zu werden, dass sie es aber als hilfreich erleben, immer wieder etwas angeboten zu bekommen oder darauf hingewiesen zu werden, etwas zu essen.

 

Sexualität

Das Thema Sexualität ist eng mit dem eigenen Körperempfinden verbunden. Einige der Erzählerinnen beschreiben, dass sie Schwierigkeiten haben, sich im eigenen Körper wohlzufühlen und dadurch auch Berührungen als unangenehm empfinden. Viele erzählen, dass sie ihren Körper selbst nicht schön finden und sich nicht vorstellen können, dass jemand anderes ihn schön findet.

 

Kinderwunsch, Schwangerschaft und Geburt

Einige unserer Interviewpartnerinnen machten sich Gedanken zu der Frage, ob sie gerne eigene Kinder haben möchten. Für manche ist das eher ein Wunsch für die Zukunft, da sie nicht in einer Partnerschaft sind oder sie sich mit der Essstörung und einem Kind überfordert fühlen. Einige beschreiben, dass sie gerne Kinder bekommen möchten, sie aber erstmal gesund werden müssen. Während einer Essstörung, besonders bei stark vermindertem Gewicht, kann es sein, dass die Periode ausbleibt. Bei einigen unserer Interviewpartnerinnen war (oder ist) es nicht sicher, ob sich der Körper wieder soweit erholt, dass die Periode wieder einsetzt. Eine Interviewpartnerin berichtet, dass sie lange versucht hat, schwanger zu werden, dass es aber leider nicht geklappt hat. Andere berichten, dass die Periode wieder einsetzte, als sich ihr Gewicht wieder normalisierte.

Zwei unserer Interviewpartnerinnen haben eigene Kinder bekommen. Sie erzählen davon, wie es ihnen in der Schwangerschaft und mit der Geburt erging. Bei Tanja Zillich war die erste Schwangerschaft der Weg raus aus der Bulimie: als sie schwanger wurde, hörte sie auf zu erbrechen und gewann wieder ein Gefühl dafür, wann sie Hunger hat. Sie hatte das Gefühl, jetzt Verantwortung für jemand anderen zu haben und das ermöglichte es ihr, auch mit dem Zunehmen in der Schwangerschaft klarzukommen. Für Martina Fuhrmann waren ihre Schwangerschaften dagegen anfangs sehr schwierig, weil sie sehr unter Übelkeit litt. Dadurch musste sie häufig erbrechen, obwohl sie das nicht wollte. Schließlich half ihr ein Medikament dagegen.

 

Leben mit Kindern

Zwei unserer Interviewpartnerinnen haben eigene Kinder und erzählen von ihren Erfahrungen im Alltag. In ihren Erzählungen zeigt sich, dass sie im Großen und Ganzen gut in ihrem Leben mit den Kindern zurechtkommen, sich jedoch in manchen Situationen rund um das Essen Besonderheiten finden. So beschreibt Martina Fuhrmann, dass sie im Familienkühlschrank ein eigenes Fach für sich hat. Das gibt ihr Sicherheit, immer das zur Verfügung zu haben, was sie gut essen kann. Tanja Zillich erzählt, dass sie versucht, mit den Kindern möglichst gesund und ausgewogen zu essen. Sie ist froh, dass die Kinder ein normales Verhältnis zum Essen haben.